"Jetzt ist die Zeit..."

‚Jetzt ist die Zeit‘ (nach Mk 1,15) lautete das schöne Motto des Kirchentages, der im vergangenen Jahr in Nürnberg stattfand. Es erinnerte erstens daran, dass es neben unseren Zeitvorstellungen auch die Zeit Gottes gibt, den Kairos. Und es appellierte zweitens daran, bei wichtigen Entscheidungen nicht zu zaudern. Es gibt ja einen Unterschied zwischen Zögern und Zaudern. ‚Im Zögern steckt etwas von Nachdenklichkeit, Abwägen, von Vernunft. Im Zaudern steckt Angst, Scheu und Unsicherheit‘, so der Journalist Frank Schirrmacher. Einige ‚Winke des Himmels‘ in den zurückliegenden anderthalb Jahren haben in mir den Eindruck verstärkt, dass Gottes Kairos für mich anders sein könnte als meine persönlichen Zeitvorstellungen. Darum habe ich nach einigem Zögern ohne zu zaudern den Entschluss gefasst, zum 1. Juli 2024 in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Dass die Entscheidung mit etwas Wehmut verbunden war, zeigt mir, dass ich irgendwie doch gerne Pfarrer in Waldbröl gewesen bin. Doch dann habe ich die Hand an den Pflug gelegt und nach vorne geschaut (Lk 9,62). Und so freue ich mich auf mehr Zeit für meine Frau, meine Familie, für Freunde, für mich und meine Interessen und für Gott.

Als der Pilot Chesley B. Sullenberger im Januar 2009 ein Flugzeug auf dem Hudson River notwasserte, nachdem alle Triebwerke durch Vogelschlag ausgefallen waren, und dadurch zahlreiche Menschenleben rettete, wurde er gefragt, ob er während des Manövers gebetet habe. Er antwortete: nein, ich musste mich voll konzentrieren, aber ich wusste, dass viele Passagiere dies für mich tun würden. Auch ich wusste mich begleitet und getragen von Gebeten aus der Gemeinde, wenn ich bei allem Tun zu wenig Zeit zum Beten hatte. Es ist schön, jetzt die Position wechseln zu dürfen. Ich freue mich auch darauf mehr Zeit für Freunde und Begegnungen zu haben. Außerdem brauche ich noch viel Zeit, um die Zeit, die ich meinen Kindern vorenthalten habe, an meinen Enkeln wieder gut zumachen. Und dann liebe ich es – auch nach fast 40 Jahren Ehe – immer noch, Zeit mit meiner Frau zu teilen. Schließlich ist da eine lange Liste von Punkten, die ich immer schon tun und erleben wollte. Ich habe es als besonders tragisch erlebt, wenn ich Menschen zu Grabe tragen musste, die ihr Leben verschoben haben. Das möchte ich nicht, und vielleicht schenkt mir mein Herr ja noch einige Jahre, in denen ich die gut gefüllte Pensionskasse der Rheinischen Kirche plündern darf. ‚Sei ganz sein (gemeint ist Jesus) oder lass es ganz sein‘, dieses Motto des CVJM, in dem ich meinen Glauben gelernt habe, hat mich geprägt und ist zu einer Art Über-Ich meines Lebens und meines Glaubens-Engagements geworden. Oft frage ich mich, ob es gut war, häufig am Limit zu arbeiten, aber dann sehe ich auf all das Schöne, das ich dadurch erlebt habe und tun durfte und sage: Ja, vielleicht. Es wäre jedenfalls schön, wenn ich mit alldem einen Beitrag für das Reich Gottes leisten konnte. Zu der mir eigenen Ehrlichkeit gehört aber auch, offen zu sagen, dass nicht alles immer nur gut und harmonisch war. Gegenseitige Verletzungen und Enttäuschungen gehören zu den schmerzlichen und ernüchternden Erfahrungen in einer Institution, in der eben nicht nur Heilige leben und arbeiten. Doch letztlich ziehe ich eine positive Bilanz meiner über 30jährigen Tätigkeit als Pfarrer in Waldbröl und auch eine positive Lebensbilanz nach über 60 Lebensjahren. Und positive Bilanzen gehören sicherlich zu den größten Gnaden, die wir von Gott erhoffen dürfen. Die Verabschiedung und Entpflichtung (das beste Wort, das die Kirche erfunden hat) ist für den 30.Juni geplant.

Ihr Jochen Gran

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